Die Deutsche Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e.V. (DGIHV) beteiligte sich als Kooperationspartner am Programm des Weltkongresses der OTWorld 2024. Die Kernthemen ihres Programms reichten von der Prothetik über die Kinderorthopädie bis hin zur Patientenversorgung und Patientenerhebung.
Mit zwei Workshops und zwei Symposien gestaltete die Deutsche Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e.V. (DGIHV) den Weltkongresses der OTWorld 2024 mit. Zu den nationalen und internationalen Referenten des DGIHV-Programms am 16. und 17. Mai 2024 in Leipzig gehörten unter anderem: Univ.-Prof. Dr. Wolfram Mittelmeier (Vorstandsvorsitzender DGIHV), Olaf Gawron (stellvertretender Vorstandsvorsitzender DGIHV), Samuel Wiedmann (Pohlig GmbH), Prof. Dr. Georg Osterhoff (Universitätsklinikum Leipzig), Prof. Dr. Kenton Kaufman (Mayo Klinik, USA), Bengt Söderberg (Scandinavian Orthopaedic Laboratory) und Dipl.-Ing. (FH) Julia Block (Universitätsklinikum Heidelberg).
„Ich bin beeindruckt von der Expertise und dem Engagement der internationalen und interdisziplinären Referenten und Teilnehmer beim Weltkongress der OTWorld 2024“, erklärte Prof. Mittelmeier, der Vorstandsvorsitzende der DGIHV. „Die von der DGIHV gestalteten Workshops und Symposien haben eindrucksvoll gezeigt, wie wichtig der Blick auf die individuellen Wahrnehmungen und Situationen der Patienten bei der erfolgreichen Prothesenversorgung ist. Ebenso sind Patientenerhebungen und Register für die Qualitätssicherung in der Orthopädietechnik unerlässlich.“
Unter-/Oberschenkelprothetik – Passformkontrolle des Schaftes und Abnahmekriterien der Prothese
Im ersten Workshop am 16. Mai 2024 befassten sich die Experten mit der Überprüfung des Prothesenschafts und den Abnahmekriterien einer Prothese. Den Anfang machte Orthopädietechniker-Meister Samuel Wiedmann, der in seinem Beitrag „Passformkontrolle bei Ober- und Unterschenkelprothesen” deutlich machte, dass die Anwender häufig über ähnliche Schaftprobleme wie Druck am Stumpfende berichten. Hinter diesen gleichlautenden Aussagen stehen jedoch unterschiedliche Ursachen. Der Orthopädietechniker muss daher Maße und Kontextaussagen besonders im Blick behalten. Auch beim Prothesenanlegen sollte der Orthopädietechniker anwesend sein, da manche Probleme beim Anlegen schon sichtbar werden. Mit Bild- und Videomaterial zeigte Wiedmann am echten Patienten und Skelett, welche Griffe am Schaft gemacht werden müssen, um die Passform zu überprüfen. Sein eindringlicher Appell: jedem Orthopädietechniker muss klar sein, dass er für die Kontrolle sehr nah an den Patienten heran muss – auch in intimere Bereiche. Anschließend behandelte Johannes Siegel (Head of Department Prostethics lower extremities bei Ottobock SE & Co. KGaA) das Thema: „Abnahmekriterien bei Unterschenkel- und Oberschenkelprothesen”. Er startete seine Ausführungen mit einer Einordnung der Abnahme der Prothese innerhalb des Versorgungsprozesses. Sie findet während der Qualitätskontrolle, in der auch das Rehabilitationsergebnis überprüft wird, statt. Zur Abnahme verwende man bei seinem Unternehmen die Kriterien, welche im Kompendium „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der unteren Extremität” der DGIHV zu finden sind. So gehöre zur Abnahme neben Kriterien der Passformkontrolle, wie dem Schaftrandverlauf, auch die Kriterien zur Kontrolle der Gesamterscheinung, wie der Körpersymmetrie, und Kriterien der Haltemechanismen, wie der statischen und dynamischen Kontrolle. In seinem Vortrag bezog er sich zum einen auf die Standards aus diesem Kompendium und zum anderen auf die Erfahrungen, die man in seiner Firma gemacht hat.
3D-Druck in der Kinderorthopädie – neue Möglichkeiten der Hilfsmittelversorgung
Das Symposium am 16. Mai 2024 beleuchtete verschiedene Aspekte des Einsatzes des 3D-Drucks in der Kinderorthopädie. So ging Frank Naumann (ORTHOVITAL GmbH) der Frage nach „Wer wächst schneller, das Kind oder die Orthese?”. Stefan Kunz (Pohlig GmbH) stellte die „Concept 4D-Orthese von Kindern mit geburtstraumatischer Plexus-Parese“ vor, während Sophia Rauch (Pohlig Ottobock.care) über „3D Print Armorthesen mit SimBrace-Verfahren zur Funktionssimulation im Versorgungsprozess” und berichtete. Dabei erklärte sie, wie im SimBrace-Verfahren die Funktion der Orthese noch vor der Fertigung und Anpassung simuliert wird. Prof. Dr. Georg Osterhoff beschäftigte sich mit der Frage: „3D Printing individuelle Versorgungsmöglichkeiten für Groß und Klein?”, ehe Prof. Mittelmeier in seinem Vortrag „Einsatz von dynamischem 3D Printing in der Schaftversorgung von Kleinkindern” die neusten Entwicklungen in diesem Feld darlegte. Er gab Einblick in die Verlaufsstudie der Orthopädischen Klinik in Rostock, die eine beeindruckende Serie zur 3-D-Schaftversorgung von Kleinkindern mit Knie-Exartikulationen verfolgt. Dank dieses Verfahrens konnte das Alter der Versorgten auf zwei Jahre gesenkt werden.
Patientenversorgung sicherstellen durch Registerforschung – eine internationale Perspektive
Das Symposium am 17. Mai 2024 beschäftigte sich mit der Qualitätssicherung in der Patientenversorgung und benannte beispielhaft internationale Register, die dabei unterstützen können. Olaf Gawron startete mit einem „Überblick über die aktuelle prothetische Behandlung in Deutschland” und verdeutlichte, dass es in Deutschland keine Erhebungen der prothetischen Versorgungen gibt. Dabei kann es ohne Erhebungen keine Strukturen und keine einheitlichen Rehabilitationsstandards geben. Datenerhebungen sind für eine stringente Versorgungslage unerlässlich. Anschließend stellte Timo Stehn (Geschäftsführer Endoprothesenregister Deutschland EPRD) das Erfassungssystem EPRD-Edit vor. In diesem System sind etwa 2,85 Mio. Dokumentationen erfasst. Es unterstütz Evidenzdaten für die Medical Device Regulation (MDR). Ein aktuelles Projekt des EPRD gemeinsam mit dem Fraunhofer Institut und dem Universitätsklinikum Heidelberg ist ortho connect, in dem Verläufe dokumentiert und Register verknüpft werden sollen. Dann gab Prof. Dr. Kenton Kaufman Einblicke in „Die Entwicklung des Limb Loss and Preservation Registry (LLPR) in den USA”. Das LLPR startete 2022 die Erhebungen und erhält bereits Daten aus 221 Standorten in den USA. Das Register umfasst bereits über 11 Mio. Behandlungsfälle und mehr als 400.000 individuelle Patientendaten. Damit sollen Erkenntnisse gewonnen werden, um eine qualitativ hochwertige Versorgung zu definieren. Auch Bengt Söderberg konnte mit „SwedeAMP – Erkenntnisse aus dem Land der Beweise”, dass es internationale Vorbilder gibt, die die Notwendigkeit von Datenerhebungen und Registerforschungen beweisen. In SwedeAmp werden 6 E-Registerplattformen vereint mit dem Ziel durch Vergleiche, Verbesserungen anzustoßen, Evidenz zu schaffen und so nationale Richtlinien zu erstellen. So ist es möglich die persönlichen Daten national und regional zu vergleichen. Zukünftig soll es mit einer globalen Plattform auch international möglich sein. Den Abschluss machte Orthopädietechnikerin Julia Block mit ihrem Vortrag „Zur Entwicklung eines deutschen Amputationsregisters”. Sie stellte das Projekt AMP-Register des Medizinisch-Technischen Kompetenzzentrums (MeTKO) vor. In ihm wurden die Fragebögen – Teil A für den Patienten und Teil B für den Experten – der DGIHV zur Datenerhebung in einer App eingebunden. Das Ziel: Versorgungsabläufe nicht verzögern und die Regierung zur Einführung eines Registers bewegen. Dies kann aber nur durch das stetige Einpflegen von Daten funktionieren, deshalb soll die App zukünftig an bestehende Infrastrukturen und Systeme angebunden werden und um weitere Anwender erweitert werden. Allerdings müssen dafür auch die Orthopädietechniker sensibilisiert werden, weshalb es im Zuge dieses Projekts auch Workshops an Meisterschulen gibt. Ziel der Projektvorstellungen ist: Datenerhebungen sind nicht lästig, sie bereichern die eigene Arbeit.
Patientenerhebungen in der Orthopädietechnik – Einsatz und Umsetzung im Alltag
Der Workshop am 17. Mai 2024 schloss inhaltlich an das zuvor gehaltene Symposium an und demonstrierte die App des AMP-Register live im Vortragsraum. Zur Einstimmung gab Urban Daub (M.Sc. Fraunhofer IPA) mit seinem Beitrag „Assessments in der Technischen Orthopädie: Was kann ich am und mit dem Patienten erheben?” einen Überblick verschiedener Tests zur Beurteilung der körperlichen Funktionen – wie dem L-Test der funktionellen Mobilität. Beim L-Test müssen Patienten insgesamt 20 Meter gehen und dabei zwei Transfers sowie vier Drehungen durchführen. Er ist zur Beurteilung der Mobilität von Patienten mit Amputationen der unteren Extremitäten gedacht. Durch die L-Form der Gehstrecke wird gewährleistet, dass die Testperson die Drehung des Körpers beim Gehen in beide Richtungen durchführen muss. Diese veranschaulichte er mit Bild- und Videomaterial und erklärte, dass es rund 50 verschiedene Tests gäbe, die einen Vergleich schwierig machten. Daher müsse man auf folgende Anforderungen achten: Validität, Sensibilität für Veränderungen, Sensitivität für Parameter, Verlässlichkeit und Praktikabilität. Erfüllt ein Test all diese Anforderungen, können die Ergebnisse wertvoll für die intra- und interdisziplinäre Kommunikation sein, zum Leitfaden für therapeutische Befunderhebungen werden und die Effekte der Behandlung dokumentieren. Im Anschluss führte Julia Block in „Amputationsregister (AMP-Register) und die AMP-Kompass-App: Eine digitale Profilerhebung von Patienten mit Beinamputation” live im Praxistest vor. Das Projekt zur Erstellung eines Registers des Universitätsklinikums Heidelberg digitalisiert die DGIHV-Fragebögen, die zuvor händisch ausgefüllt wurden und daher viel Bürokratie bedeuteten. Den ersten Teil des Fragebogens füllt der Patient während seiner Wartezeit selbstständig aus und gibt dem Orthopädietechniker so die Möglichkeit, sich schon vorab einen ersten Eindruck zu verschaffen. Der zweite Teil des Fragebogens wird während der Untersuchung ausgefüllt und teilt sich in drei Teile: einen Teil mit der Stumpfuntersuchung, einen Prothesenteil und schließlich einen Teil mit den Tests der körperlichen Funktionen. Neben den Ankreuzfragen gibt es immer auch die Möglichkeit, Bemerkungen einzutragen, denn ein Patient muss immer individuell beschrieben werden. Bei den inkludierten Tests ist eine digitale Stoppuhr gleich hinterlegt, die die Ergebnisse sofort übernimmt, es braucht also kein weiteres Equipment. Die Erhebungen lassen sich schließlich auch exportieren – entweder als Gesamtes oder nur in Teilen, wie den in den Verträgen mit den Kostenträgern integrierten BIV-Bogen. Ebenso ist es möglich, aktuell nur diesen Teil der Fragebögen auszufüllen und bei der Wiedervorlage eines Patienten die Daten einer vorherigen Untersuchung zu ändern. Ein Statistikmodul ermöglicht außerdem den Vergleich – intern oder mit allen App-Nutzern.